Rückschaffungen: Vom Spital der Polizei ausgeliefert

Schweizer Migrationsbehörden schaffen schwer kranke Menschen direkt aus stationären psychiatrischen Kliniken aus, wie ein Fall aus dem Kanton Bern zeigt.

Die Polizist:innen kommen mitten in der Nacht. Am 21. März um halb vier dringen sie ins Patientenzimmer von Mursal Haidari in den Universitären Psychiatrischen Diensten Bern (UPD) ein. So steht es im Polizeibericht. Die Behörden nehmen die junge Frau mit, die dort seit über drei Monaten in stationärer Behandlung ist.

Haidari, die in Wirklichkeit anders heisst, leidet an einer «schweren unverarbeiteten Posttraumatischen Belastungsstörung, begleitet von schwerer Depression, Angst und sozialem Rückzugsverhalten», wie in den medizinischen Akten der UPD notiert wird, die der WOZ ebenfalls vorliegen. Zuvor hatte sie einen Suizidversuch unternommen. Der behandelnde Arzt der UPD schrieb dazu im Februar an die kantonale Migrationsbehörde, dass «jede zusätzliche psychische Belastung das Risiko einer Selbstgefährdung erhöhen kann».

Doch darauf nimmt die Migrationsbehörde keine Rücksicht. Sie will Mursal Haidari zusammen mit ihren beiden schulpflichtigen Kindern sowie ihrer ebenfalls kranken Mutter unbedingt nach Spanien «rückschaffen». Dorthin war die afghanische Familie 2022 mit einem spanischen Visum geflüchtet. Wenige Jahre zuvor war Mursal Haidaris Mann – ein hochrangiger Funktionär im Sicherheitsdepartement der später von den Taliban gestürzten Regierung – in der Wohnung der Familie ermordet worden. Nach der Machtübernahme der Taliban fühlte sich die Familie erneut bedroht – und flüchtete nach Europa.

Das Crowdfunding
Unterstützer:innen der nach Spanien rückgeschafften Familie Haidari haben Beschwerde gegen die Berner Migrationsbehörden und das Kantonale Zwangsmassnahmengericht eingereicht. Diese hätten bei der Rückschaffung widerrechtlich gehandelt. Mit der Beschwerde soll auch grundsätzlich überprüft werden, inwiefern Ausschaffungen aus Kliniken überhaupt legal sind. Zur Finanzierung der Beschwerde läuft aktuell ein Crowdfunding. Mit diesem soll zudem auch die Familie Haidari unterstützt werden.

Hier geht’s zum Crowdfunding

Nach eigenen Aussagen wurde die Familie in Spanien nach zwei Tagen auf die Strasse gestellt, zudem haben sie Gründe, sich dort vor Gewalt aus dem engeren Umfeld zu fürchten. Deshalb stellte die Familie ihren Asylantrag erst in Österreich und anschliessend am 15. August 2022 einen zweiten in der Schweiz. Wie Österreich prüfte die Schweiz das Gesuch erst gar nicht, weil gemäss dem Dublin-Abkommen die spanischen Asylbehörden für die Familie zuständig seien. Spanien stimmte am 7. Oktober 2022 dem Rückübernahmegesuch der Schweiz zu. Den Schweizer Behörden blieben daraufhin sechs Monate, diese «Dublin-Rückschaffung» zu vollziehen.

Suizid in der Klinik
Dass sowohl Mursal Haidari als auch ihre Mutter erkrankt sind und Spitalpflege benötigen, passte nicht in die Ausschaffungspläne der Behörden. Aufhalten liessen sie sich davon aber nicht. Am 21. März um 7.10 Uhr wird die ganze Familie – Kinder und Grossmutter sind zuvor in der Nacht in der Asylunterkunft in Langnau im Emmental aus den Betten geholt worden – in Zürich in ein Flugzeug nach Spanien gesetzt. Die Kinder sind immer noch im Pyjama. Die wenigen Habseligkeiten muss die Familie zurücklassen.

«Bei Rückschaffungen nehmen die Behörden Tote in Kauf», sagt Jürg Schneider, der sich im Kanton Bern für die Rechte von Geflüchteten einsetzt und auch die Familie Haidari begleitet. Die Familie hat ihm die Einwilligung gegeben, mit der WOZ über den Fall zu sprechen. Schneider hat Kenntnis von fünf weiteren Fällen, in denen Menschen im Kanton Bern direkt aus psychiatrischen Kliniken rückgeschafft wurden. In einem dieser Fälle beging ein afghanischer Mann in einer anderen Berner Klinik Suizid, nachdem er erfahren hatte, dass ihn die Polizei abholen wird, wie die NZZ berichtete.

«Dass Menschen direkt aus psychiatrischen Kliniken zwangsausgeschafft werden, kommt leider regelmässig vor», sagt Lea Hungerbühler, Präsidentin der Rechtsberatungsstelle Asylex. «Der Kanton Bern ist dabei nach unserer Erfahrung am krassesten, aber auch der Kanton Zürich macht dies oft.» Der Kanton Bern schreibt in seiner Stellungnahme, in Bern seien es «pro Jahr – wenn überhaupt – eine Handvoll Fälle». Und weiter: «Solange keine Kontraindikation – sprich ein medizinischer und vollzugsverhindernder Umstand – vorliegt, kann die Rückführung vollzogen werden.»

Was aber sagt der Kanton dazu, dass es aufgrund der Praxis zu mindestens einem Suizid sowie Suizidversuchen gekommen ist? «Insbesondere Personen mit Wegweisungsentscheid sind grossen psychischen Belastungen ausgesetzt.» Zu Einzelfällen äussere man sich aus «Pietätsgründen» aber nicht. «Wir lehnen es auch klar ab, Einzelfälle in einen Zusammenhang mit der gesetzmässigen Praxis des Kantons Bern zu stellen.» Eine Änderung der Praxis sei nicht geplant.

Unseriöse medizinische Abklärungen
Dass bei den Rückschaffungen «die vorgeschriebene Reisefähigkeit gegeben» ist, wird von der «medizinischen Leistungserbringerin» des Staatssekretariats für Migration (SEM) abschliessend attestiert: der Oseara AG. Dass Letztere dabei oft nicht mit der nötigen Sorgfalt vorgeht, zeigt eine vom SEM selbst in Auftrag gegebene Untersuchung, die Westschweizer Medien rund um «Le Temps» und «La Liberté» vorletzte Woche publik gemacht haben. Von 138 untersuchten Wegweisungsfällen wiesen demnach 94 «relevante» oder «sehr relevante» Fehler der eingesetzten Medizinalfirma auf.

Im Sommer kritisierte UPD-Chefarzt Werner Strik in der NZZ die Ausschaffungspraxis der Behörden. Alle Menschen hätten das Anrecht auf medizinische Behandlung. Die UPD gäben denn gegenüber den Behörden auch keine Auskunft zu Patient:innen und kooperierten nur, wenn ein Durchsuchungsbefehl vorliege. Für Jürg Schneider reicht das nicht. «Die Kliniken nützen ihren Spielraum beim Schutz der Betroffenen nicht aus», ist er überzeugt. Gegenüber der WOZ schreiben die UPD, sie richteten sich «bei Zusammenarbeit mit den Behörden nach den gesetzlichen Vorgaben». Zum konkreten Fall wollen sich die UPD gegenüber der WOZ «aus Gründen des Berufsgeheimnisses und des Persönlichkeitsschutzes» nicht äussern.

Klar ist: Die Klinik wurde vorgängig über die Nachtaktion der Behörden informiert. Mursal Haidari wurde am Vortag eigens aus dem Mehrbettzimmer in ein Einzelzimmer verlegt, aber nicht über die Gründe informiert. In einer Nachricht an Schneider schreibt Haidari, es beschäftige sie bis heute, dass die gleichen Ärzt:innen, die sie über Monate gepflegt hätten, sie anschliessend ausgeliefert hätten. Nicht einmal in einer Klinik erhalten die Menschen minimalen Schutz, sagt Schneider.

Als die Polizei am 21. März ins Zimmer von Mursal Haidari kommt, erleidet diese einen Schock, so steht es im Protokoll der UPD. Der WOZ vorliegende Bilder, die anschliessend in Spanien gemacht werden, zeigen zudem Blutergüsse an beiden Händen, die gemäss der Familie von selbstverletzendem Verhalten während der Rückschaffung stammen.

Aus Madrid erreicht Jürg Schneider im Oktober die Nachricht, dass Mursal Haidari in Spanien einen weiteren Suizidversuch unternommen hat.

Autor: Basil Weingartner

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