Menschlichkeit im Fokus

Der Verein Offenes Scherli bietet einen Ort zum Zusammenkommen, Austauschen, Kraft schöpfen und konkrete Unterstützung organisieren. Er baut Brücken zwischen den Bewohner*innen des Dorfs Niederscherli und Umgebung und den Asylsuchenden. Die Mitglieder verfolgen ein Ziel:  Das Ankommen in der Schweiz so human wie möglich zu gestalten. Leider ist das mit der momentanen Politik nicht nur einfach. Es braucht Menschen, die sich aktiv für Migrant*innen einsetzten. Ihre Stimme wird sonst einfach übergangen – und dies würde mit Paragraphen gerechtfertigt werden. 

Als ich den Raum betrete, steigt mir der köstliche Duft von frischer Ananas und Curry in die Nase. Ein leichtes Unbehagen durchzuckt mich, da ich weiß, dass der Raum bald mit fremden Gesichtern erfüllt sein wird. Die herzliche Begrüssung der beiden Menschen, die bereits da sind und kochen, gibt mir das Gefühl willkommen zu sein. Immer mehr Menschen betreten den Raum. Bald ist die Atmosphäre erfüllt von Lachen, Kindergeschrei sowie mir fremden Sprachen und Düften. Im Kirchgemeindshaus Niederscherli findet jeden ersten Freitag im Monat das Treffen des Flüchtlingsvereins Offenes Scherli statt. Gemeinsam kochen Freiwillige abwechslungsweise schweizerisch oder ein Gericht aus einem der Heimatländer der Migrant*innen, um sich so die Kultur gegenseitig näher zu bringen.

Mein Vater ist als Mitgründer des Vereins bei fast jedem Treffen dabei. Heute durfte ich ihn begleiten, um die Gesichter kennenzulernen, von denen er am Küchentisch berichtete.

«Eines der sinnvollsten Dinge, die ich in meinem Leben tue» Jochen Matthäus während der Hinfahrt zum Abendessen

Grenzen überwinden

Im Jahr 2015 reichten in der Schweiz 39.523 Personen ein Asylgesuch ein. Von diesen meist traumatisierten Flüchtlinge warteten mehr als 120 Männer im Dorf Niederscherli in einer Notunterkunft mehrere Monate bis über fünf Jahre auf ihren Asylbescheid. Zu zwanzigst in einem Raum verbrachten sie zahllose Stunden ohne Privatsphäre und ohne Beschäftigung. Das Arbeiten wurde ihnen untersagt. Um die Asylsuchenden in die Gemeinschaft zu integrieren, meldeten sich in kürzester Zeit viele Freiwillige, die verschiedenste Aktivitäten mit den Flüchtlingen durchführten.

Es gab Sportangebote wie gemeinsames Joggen oder Fussballspielen, Deutschkurse wurden organisiert, ein Begegnungskaffee eröffnet, gemeinsame Ausflüge durchgeführt und auch das monatliche Treffen fürs gemeinsame Kochen wurde eingeführt. Schnell merkten die Helfer*innen, dass es bürokratisch am einfachsten ist, einen Verein zu gründen. So entstand Ende März 2016 der Verein Offenes Scherli. Die massiven Türen der Asylunterkunft haben sich 2017 wieder verschlossen. Die Asylbewerber haben ihre Wege fortgesetzt, sind in Wohnungen eingezogen oder haben in anderen Einrichtungen Unterschlupf gefunden. Der Kontakt zum Verein blieb beständig.

Viele Flüchtlinge, welche die Lehre abgeschlossen haben, engagieren sich weiterhin freiwillig im Verein.

An neue Grenzen stossen

Der Verein konzentrierte sich zuerst auf die Integration von Migrant*innen. Man wollte die Asylsuchenden bestärken und ihnen auch in der beruflichen Ebene Hilfestellungen anbieten. Dazu gehörte an allererster Stelle das Organisieren von Deutschkursen.

Während der gemeinsam verbrachten Stunden im Deutschkurs bemerkte Jürg Schneider, dass die Zahl der negativen Asylentscheidungen unverhältnismäßig hoch und oft schwer nachvollziehbar war. Je nach Herkunftsland fiel der Asylentscheid in bis zu über 75% der Fälle negativ aus. Eine Rückkehr in das eigene Land ist für die meisten aufgrund begründeter Ängste dennoch nicht möglich. Das heisst, die Heimatvertriebenen müssen fortan illegal in der Schweiz ohne Perspektive leben. Sie dürfen nicht arbeiten, eine Lehre oder auch nur ein Praktikum beginnen. Oft müssen sie ihre bereits gefundene Wohnungen wieder verlassen und in einem Rückkehrzentrum leben.

Jürg Schneider begann sich die Berichte genauer anzuschauen und bemerkte, dass diese unter anderem auf Grund von Achtlosigkeit abgelehnt wurden. Es scheint sogar, als würden die Angestellten des SEM (Staatssekretariat für Migration) bewusst nach Gründen suchen, um möglichst viele Menschen abzuweisen. Die Flüchtlinge erzählen, dass sie kurz nach ihrer Ankunft ein Kurzinterview hatten, in dem auf Deutsch nach ihrer Flucht gefragt wurden. Meistens war ein*e Dolmetscher*in dabei, die nicht die gleiche Sprache beherrschte wie die Asylsuchenden. Ein Jahr später fand erneut ein Interview statt. Die Asylsuchenden wurden wiederum aufgefordert, ihre Geschichte darzulegen. Wenn ihre Schilderung nicht genau mit dem ersten Bericht übereinstimmte – den sie aufgrund von Sprachbarrieren nicht vollständig erzählen konnten – war dies zum Beispiel bereits ein Grund für eine negative Asylentscheidung.

In zahlreichen Bereichen, wie der Pflege und im Gastgewerbe, besteht ein erheblicher Personalmangel. Eine erweiterte Arbeitserlaubnis käme daher auch der Schweizer Wirtschaft zugute. Dies lässt die Verfahren in einem noch fragwürdigeren Licht erscheinen. Die offenkundige Ungerechtigkeit und die spürbare Hilflosigkeit der Asylsuchenden, erfüllten Jürg Schneider mit Zorn. Er kanalisierte diese Wut in konkrete Handlungen und begann Beschwerden einzureichen. Je mehr Knowhow er gewann, desto erfolgreicher wurde er. Trotz mehrfacher Versuche bleiben jedoch Entscheidungen noch immer oft negativ. Heute ist rechtlicher Beistand ein fester Bestandteil des Vereins.

Auszeichnung des Engagements

Die Fachstelle Migration der Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn kürte 2022 den Verein Offenes Scherli, insbesondere Jürg Schneider, zum Preisträger des Förderpreises, dotiert mit 5000 Franken. Dies war ein grosser Meilenstein für den Verein, da sich dieser nur über Spenden finanziert. Das Geld geht ausschliesslich an die Asylsuchenden, alle Mitglieder arbeiten 100% ehrenamtlich. Es ist den Vereinsmitgliedern wichtig, finanziell nicht vom Staat oder anderen Vereinen abhängig zu sein, da sie sich sonst nicht ungehindert für ihre Schützlinge einsetzen können.

Freude feiern, Sorgen auffangen

Beim Abendessen, an dem ich teilnahm, starten sie jeweils mit einer Gesprächsrunde. Fast jeden Monat kommen neue Teilnehmer*innen an den Treff und werden herzlich begrüsst. Dort werden Neuigkeiten, Ideen, Erfolgserlebnisse und auch Enttäuschungen miteinander geteilt. Gemeinsam freut man sich für den jeweiligen Menschen oder sucht kollektiv nach Lösungen. Häufige Themen sind neue Lehrstellen, Wohnungssuche und Asylentscheide.

«So oder so, es geht immer gut»
Das sagt Libena* aus Eritrea. Sie ist als 15-Jährige allein in die Schweiz geflüchtet.

Vom Camp zum Koch und zurück

Hawi* musste vor acht Jahren das Gymnasium in Äthiopien abbrechen und in die Schweiz flüchten. Hier verbrachte er die ersten drei Jahre in einem Camp. Erst dann durfte er eine Lehre als Koch anfangen und erfolgreich abschliessen. In dieser Zeit hat er sich ein Leben aufgebaut. Eine eigene Wohnung gemietet, die Autoprüfung bestanden und sich vom Lohn ein eigenes Auto gekauft. Er lebte unabhängig vom Sozialamt. Während des Essens erzählte er mir, dass er kürzlich wieder einen Negativentscheid bekam.

Bestürzt hörte ich zu, wie er erzählte, dass er seine gesamten Besitze inklusiv Auto und Wohnung wieder verkaufen und aufgeben musste. Jetzt lebt er wieder wie am Anfang in einer Flüchtlingsunterkunft. Von dem Migrationsamt bekommt er knapp zehn Franken pro Tag, um sein Leben zu finanzieren. Eine sogenannte Nothilfe. Das ist Hilfe am Existenzminimum.  

Seine gefasste Haltung beeindruckte mich zutiefst. Nachdem er den Schock verdaut hatte, gestaltete er seinen nun leeren Alltag neu. Er schloss sich Sportvereinen an und besucht zweimal wöchentlich einen Deutschkurs, um ein Sprachdiplom zu erwerben.

Wird Nesanet* ihre Träume von Heimat verwirklichen können?

Ein Ankerplatz

Der vielschichtige Gemütszustand im Laufe des Abends berührt mich. Zuerst nahm ich die heitere Stimmung wahr, fröhliches Gelächter und lebhaftes Geplapper. Doch je länger ich hier bin, desto stärker spüre ich die Verletzlichkeit, die Kraft, die Sturheit, die Anpassungsfähigkeit und die Angst, die die Überlebenden ausstrahlen. Sie haben Dinge erlebt, die jenseits meiner Vorstellungskraft liegen. Sie müssen sich ihren Platz auf dieser Welt erkämpfen. Die Präsenz dieser Emotionen zeigt mir, wie wichtig dieser Verein ist. Er bietet den Friedensuchenden, die auf Ablehnung stossen, einen Ankerplatz. Deshalb bin ich froh, dass die Vereinsmitglieder zuversichtlich sind, dass der Verein Offenes Scherli noch weiter bestehen wird. Dass der Bedarf endet, wäre schön. Mit der momentanen Politik – national sowie global –aber eher unrealistisch.

*Namen zum Schutz der Personen geändert

Autorin: Amélie Matthäus

Die Reportage im pdf-Format

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