Zwangsabbruch von Berufslehren

Es ist verdienstvoll, dass Bund und Kantone in Zusammenarbeit mit den Berufsverbänden und Berufsschulen in vielen Kantonen – auch im Kanton Bern – eine ganze Reihe von Integrationsprogrammen lanciert haben, mit denen nicht nur bereits akzeptierte Flüchtlinge und vorläufig aufgenommene Flüchtende durch gezielte, aufbauende Programme in unsere Wirtschaft integriert werden. Die Häufung von erzwungenen Lehrabbrüchen bleibt aber nach wie vor ein Dorn im Auge.

Zwang zum jähen Lehrabbruch
Mit den „grossen Flüchtlingsjahrgängen“ von 2015/2016 warteten Asylsuchende jahrelang auf ihren Asylentscheid. Um die Wartezeit zu nutzen, wurden Integrationsprogramme initiiert. Viele Asylsuchende ergriffen die Chance. In Mangelberufen war die Nachfrage nach Auszubildenden gross, Ausbildnerinnen und Ausbildner rissen sich um die jungen, meist hoch motivierten Lernenden. Doch wehe, wenn der Asylentscheid negativ war: Gnadenlos ist das geltende Recht, die Arbeitsbewilligung entfällt sofort. Lernende müssen die Lehrstelle meist sofort verlassen. In Kleinkantonen reicht vielleicht ein Telefonanruf des Lehrmeisters mit dem zuständigen Regierungsrat, doch in den meisten Kantonen hält man sich an geltendes Recht und zwingt Lernende zum jähen Lehrabbruch.

Regierung stemmt sich gegen Härtefallregelung
Eine ganze Reihe von Pflegelehrlingen mussten z.B. mitten in der Corona-Pandemie ihren Lehrbetrieb Knall auf Fall verlassen. Elektroinstallateure und Käser verlieren ihre „Stifte“. Auch im Kanton Bern gibt es keine Gnade und eine Häufung von Lehrabbrüchen. Der Grosse Rat des Kantons forderte von der Regierung, für solche Fälle eine Härtefallregelung vorzusehen. Die Regierung stemmte sich dagegen, der Handlungsspielraum sei zu eng. Das kantonale Verwaltungsgericht stützte die Auffassung der Regierung. In der Romandie sammelte der Verein „un apprentissage – un avenir“ gemeinsam mit uns mehr als 10’000 Unterschriften. Die Petition wurde im August 2020 von der staatspolitischen Kommission des Nationalrats als dringlich erklärt und erfuhr im Dezember 2020 im Erstrat eine klare Zustimmung. Seither haben wir nun in drei Anläufen mit zusätzlichen Motionen von Jürg Grossen und Christa Markwalder versucht, im Parlament eine Mehrheit zu finden. Dreimal erhielten wir im Nationalrat eine klare Mehrheit, zweimal scheiterten wir (im März 2022 ganz knapp) am Ständerat. Das SEM und die zuständige Bundesrätin haben sich bisher vehement gegen eine noch so moderate Praxisanpassung gestemmt. Lernende und Ausbildende warten weiter auf eine Lösung. SEM und Bundesrat haben argumentiert, mit dem beschleunigten Asylverfahren werde es solche Fälle gar nicht mehr geben, es gebe nur wenige unerledigte Fälle nach altem Recht und überhaupt handle es sich um ganz wenige Einzelfälle. Diese Argumentation ist zwar unwahr, doch der Ständerat folgte bisher der Argumentation.

Im Frühjahr 2023 versuchen wir es ein drittes Mal im Ständerat. Vielleicht sieht man  – auch angesichts zunehmender Flüchtlingszahlen und vieler Lernende aus der Ukraine –, dass unsere Forderung nach einer Gesetzesänderung berechtigt ist: Lehrmeister wollen ihre Lernenden behalten und letztere wollen ihre Lehre abschliessen. Ist das nicht ein berechtigtes Anliegen? 

Um wen und was geht es?
Es geht um hunderte Menschen in vielen Kantonen der Schweiz, um Lehrlinge in arg gebeutelten Gastrobetrieben, um Handwerker, junge Frauen und Männer in Demenzstationen. Das Problem ist nicht mit dem „definitiven“ Asylentscheid gelöst, denn Lehrabbrechende verschwinden mit dem negativen Entscheid nicht aus dem Land. Ein Abschluss wäre zwar zu Hause beste Entwicklungshilfe, doch die meisten Lehrlinge, die in Pflegeheimen und Betrieben fehlen, können gar nicht in ihr Herkunftsland zurück. Sie warten jahrelang auf Kantonskosten in „Rückkehrzentren“ oder sie verschwinden als Sans-Papiers, bis sie über “Dublin” wiederum bei uns landen. Das Problem ist nicht mit dem neuen Asylverfahren gelöst. Tausende aus dem alten Verfahren warten auf definitive Entscheide. Und was ist mit Asylsuchenden, die im neuen, sog. „erweiterten Verfahren“ auf ihren Entscheid warten? Will man sie in der Wartezeit herumhängen lassen?

Was wir tun
Wir von Offenes Scherli und viele Ausbildnerinnen und Ausbildner, welche uns regelmässig kontaktieren, wollen nicht einfach aufgeben. Wir glauben auch nicht an eine Einzelfallpraxis. Bundesrätin Keller-Sutter hat im Ständerat versprochen, es seien zwischen Kantonen und Bund Lösungen für die Einzelfälle möglich und im Übrigen gebe es auch nur noch wenige Fälle. Beides ist nicht richtig. Wir haben allein auf unserem Tisch Dutzende ungelöster Fälle von Lernenden, die in Rückkehrzentren Daumen drehen und kaputt gehen, weil sie nicht mehr arbeiten dürfen, aber auch nicht in ihr Herkunftsland zurückkönnen (siehe Nothilfe). Die versprochene Einzelfallpraxis bringt für die meisten Fälle keine Lösung, denn gerade der Kanton Bern will sich nicht bewegen, Härtefälle werden dem SEM erst gar nicht unterbreitet.

Wie immer in der Asylpolitik: Die Hoffnung stirbt zuletzt. Und wir bleiben dran.

Jürg Schneider
Offenes Scherli/ag-nothilfe