Jugendliche kämpft um ihre Lehrstelle

Das Parlament will, dass Jugendliche auch mit negativem Asylentscheid ihre Lehre beenden dürfen. Doch Stella Gazazyan musste feststellen: Das ist im Moment nur Theorie.

Publiziert: Der Bund, 13.04.2023

Im Altersheim Senevita Aespliz in Ittigen bei Bern herrscht Aufruhr. Die 17-jährige Stella Gazazyan darf ihre Lehre als Pflegerin nicht weiterführen. Das hat das Bundesverwaltungsgericht entschieden. Die Heimbewohner und die Arbeitskolleginnen sind entsetzt und haben mehrere Protestbriefe geschrieben. Man sei auf «engagierte und fähige Pflegepersonen wie Stella Gazazyan dringend angewiesen», heisst es in einem der Schreiben. In einem anderen Brief steht in zittriger Schrift: «Es ist uns ein grosses Anliegen, dass Stella uns erhalten bleibt.» 29 Heimbewohner haben ihre Unterschrift daruntergesetzt. 

Lehrmeister Benjamin Gimmel musste seiner Lernenden Stella Gazazyan kündigen, obwohl er sie gerne weiterbeschäftigt hätte. Foto: Franziska Rothenbühler

Im Altersheim Senevita Aespliz in Ittigen bei Bern herrscht Aufruhr. Die 17-jährige Stella Gazazyan darf ihre Lehre als Pflegerin nicht weiterführen. Das hat das Bundesverwaltungsgericht entschieden. Die Heimbewohner und die Arbeitskolleginnen sind entsetzt und haben mehrere Protestbriefe geschrieben. Man sei auf «engagierte und fähige Pflegepersonen wie Stella Gazazyan dringend angewiesen», heisst es in einem der Schreiben. In einem anderen Brief steht in zittriger Schrift: «Es ist uns ein grosses Anliegen, dass Stella uns erhalten bleibt.» 29 Heimbewohner haben ihre Unterschrift daruntergesetzt. 

Was ist passiert? Stella Gazazyan sitzt in der Kantine des Altersheims. Sie starrt auf die Blumen auf dem Tisch, der Aufruhr um ihre Person ist ihr sichtlich unangenehm. «Ich möchte einfach nur meinen Weg als Pflegerin weitergehen, den ich vor bald zwei Jahren angefangen habe», sagt sie. Ihr Deutsch sei so gut, weil sie den Kontakt mit den betagten Menschen im Altersheim möge. Sogar jetzt, wo ihr ein Arbeitsverbot auferlegt wurde, komme sie manchmal nach Ittigen, um mit den Heimbewohnerinnen spazieren zu gehen. «Wir erzählen einander viel aus unseren Leben.» 

Missstand aufgehoben, aber…

Stella Gazazyan ist vor fünf Jahren mit ihrer Mutter und ihrer Zwillingsschwester aus Russland in die Schweiz geflohen. Sie möchte nicht öffentlich über ihre Fluchtgründe sprechen, um Familienangehörige nicht zu gefährden, die noch immer in Russland sind. Gazazyan ist eine von vielen Jugendlichen und jungen Erwachsenen in der Schweiz, die ihre Lehre aufgrund ihrer asylrechtlichen Situation nicht beenden dürfen.

Es gibt schweizweit keine Statistiken darüber, wie viele Personen sich zum Zeitpunkt eines negativen Asylentscheids in einer Berufsausbildung befanden oder diese abbrechen mussten. Gemäss Zahlen aus Berner Berufsschulen aus dem Jahr 2019 muss man etwa im Kanton Bern von 60 bis 100 solchen Lehrabbrüchen ausgehen.

Das Parlament hat sich letzten Dezember dieses Problems angenommen. Und entschieden: Lernende mit einem negativen Asylentscheid sollen ihre Lehre abschliessen dürfen. Erst danach müssen sie das Land verlassen. Der Bundesrat hat im März die gleiche Regelung für Jugendliche aus der Ukraine mit Schutzstatus S beschlossen. Mit diesem Entscheid kam das Parlament auch den Lehrmeistern entgegen, die ihre Zöglinge zu Ende ausbilden möchten.

Doch bis das Gesetz in Kraft ist, gibt es eine Vielzahl von Fällen wie jenen von Stella Gazazyan. Sie hat einen negativen Asylentscheid erhalten – wird aber vorerst nicht nach Russland zurückkehren. Ihr Fall wird sich durch alle juristischen Instanzen ziehen und mehrere Jahre dauern. Weil sie ihre Lehre abbrechen musste, erhält sie nun Nothilfe und lebt auf Kosten der Steuerzahlenden. Sie würde gerne ihre angefangene Lehre in der Pflege beenden, sitzt aber im Rückkehrzentrum in Aarwangen herum und hat nach eigenen Angaben «nicht viel zu tun». 

Die Frage ist: Warum lassen die Behörden nicht bereits jetzt zu, was ohnehin bald kommen wird? Das Staatssekretariat für Migration (SEM) weist darauf hin, dass der Bundesrat gemäss Parlamentsgesetz zwei Jahre Zeit hat, um die neue Regelung umzusetzen. Mit einer Übergangsregelung auf dem Verordnungsweg könnte der Bundesrat allerdings schneller vorwärtsmachen und für Fälle wie jenen von Stella Gazazyan eine Lösung finden. 

Zumal ein akuter Personalmangel besteht und die Schweiz auf Fachkräfte angewiesen ist. So jedenfalls sieht es Lehrmeister Benjamin Gimmel, Geschäftsführer des Altersheims Senevita Aespliz in Ittigen. «Wir erhalten wöchentlich mehrere Anfragen von verzweifelten Angehörigen, die auf der Suche nach einem Pflegebett sind, die wir leider abweisen müssen», sagt er. Gimmel sagt, er könne nicht garantieren, dass in diesem Jahr wegen Personalmangel keine Betten geschlossen werden müssten.

Gimmel kennt Stella Gazazyan, weil er sie bereits in der Vorlehre für ein Jahr betreut hat. In ihrem Arbeitszeugnis hat er geschrieben, dass er sie als «überdurchschnittlich engagiert» erlebt habe und «ausserordentlich zufrieden mit ihrer Arbeit» gewesen sei. Sie sei «überall sehr beliebt», was auch die Bestürzung im Altersheim über ihren Lehrabbruch zeigt. 

Gimmel schüttelt den Kopf, während er Fragen zu diesem Fall beantwortet. «Ich bedauere es sehr, dass ich ihr mitten in der Lehre kündigen musste.» Das sei hart gewesen. Hätte er sie weiterbeschäftigt, hätte das Altersheim eine Busse erhalten. Das war im letzten September. 

Kantone warten auf den Bundesrat

Etwas mehr als zwei Monate nach der Kündigung erfährt Gimmel vom Parlamentsbeschluss. Er schreibt sofort einen Brief an den Migrationsdienst in Bern und bittet um eine Weiterführung der Lehre von Stella. Doch ohne Erfolg. Der Kanton weist darauf hin, dass der Ball beim Bundesrat liege. «Bis eine entsprechende Änderung vorgenommen wurde, sind wir als kantonale Behörde daran gehalten, das geltende Recht umzusetzen.» 

Weder eine Lehre noch eine höhere Ausbildung seien Teil der obligatorischen Schulzeit und würden daher nicht unter das in der Bundesverfassung garantierte Recht auf Bildung fallen. Ergebnis: Gimmel kann die Lehrstelle nicht wieder besetzen. 

Auch Stella Gazazyan erinnert sich an den Tag, als sie ihre Lehre abbrechen musste: «Ich habe geweint, als wäre ein Familienmitglied gestorben», sagt sie. Auch ihre Unterbringung in einer eigenen Wohnung wurde aufgehoben. Stella und ihre Schwester mussten mit ihrer Mutter ins Rückkehrzentrum Aarwangen umziehen. Auch die Schwester darf ihre Lehre als Dentalassistentin nicht weiterführen. Und die Mutter hat ebenfalls ein Arbeitsverbot. Das Schlimmste sei die Perspektivlosigkeit, sagt Stella.

Wie geht es weiter? Die Familie hat ein Wiedererwägungsgesuch gestellt, auf welches das SEM nicht eingetreten ist. Der Fall geht wahrscheinlich nochmals ans Bundesverwaltungsgericht, wie der Anwalt der Familie mitteilt. Denn eine freiwillige Ausreise nach Russland sei ausgeschlossen.

Auf diesen Fall angesprochen, schreibt ein Sprecher von Elisabeth Baume-Schneiders Justizdepartement: «Das Ziel ist selbstverständlich, so rasch als möglich vorwärtszumachen.»

Autorin: Nina Fargahi

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