Seit 2015 setzen wir uns für mehr Menschlichkeit im Asylwesen ein. Ein Blick hinter unsere Kulissen von „reformiert.köniz“.
Spenden für Geflüchtete: Die Kirchgemeinde Köniz sammelt in diesem Herbst für den Verein „Offenes Scherli“, der sich seit rund sieben Jahren für mehr Menschlichkeit im Asylwesen einsetzt.
Just in dem Moment, in dem unser Gespräch beginnt, klingelt das Telefon. «Ich entschuldige mich, diesen Anruf muss ich annehmen», sagt Jürg Schneider, Präsident des Vereins «Offenes Scherli». Am Apparat ist eine Anwältin. Sie überbringt die Nachricht, dass endlich ein klarer Beleg beschafft werden konnte, dass ein Geflüchteter in seinem Heimatland gefoltert wurde. Das bedeute, erklärt Schneider im Anschluss, dass der Betroffene in guten Treuen erwarten könne, dass sein bisher negativer Asylentscheid nun revidiert werde. Er strahlt und fügt stolz an: «Das ist einer unserer grössten Erfolge der letzten sieben Jahre!»
«Intuitive Initiativen»
Sieben Jahre – damit meint Jürg Schneider die Zeit, die seit der Gründung des Vereins
«Offenes Scherli» vergangen ist. Denn alles begann mit der Eröffnung der Notunterkunft in Niederscherli infolge der Migrationskrise im Herbst 2015. Über hundert vorwiegend junge Männer aus verschiedenen Ländern mit unterschiedlichen Glaubensrichtungen wurden in den Schutzkellern des Schulhauses Bodengässli einquartiert und mussten unterirdisch auf engstem Raum zusammenleben (mehr als 20 Personen in einem Raum). Die Situation sei «sehr herausfordernd, ja zuweilen überfordernd» gewesen, sagt Schneider. Doch eine Handvoll Schweizer Bürgerinnen und Bürger – neben Jürg Schneider beispielsweise Rolf Bornhauser und Pfarrer Jochen Matthäus (beide im Vorstand) – hätten relativ schnell, spontan und auf freiwilliger Basis zu helfen versucht. Deutschkurse, gemeinsam Sport treiben, zusammen einkaufen, kochen und entsorgen, kulturelle Events, eine Kleiderbörse und das Vermitteln von Begegnungen – das seien die ersten, intuitiven Initiativen gewesen. Als «natürliche Konsequenz» habe man bald darauf den Verein gegründet.
Bedarf besteht weiter
Als die Gemeinde Köniz die Notunterkunft im Sommer 2017 wieder schloss und die
Asylsuchenden auf andere Zentren verteilt wurden, sei es ein «Grundsatzentscheid» des Vereins gewesen, die Arbeit fortzuführen, sagt Schneider: «Wir haben gemerkt, wie sehr die Flüchtlinge unsere Begleitung weiterhin brauchen. Insbesondere diejenigen mit negativem Asylentscheid werden sich selbst überlassen.» Zudem hätten sich bereits solch enge Beziehungen und wirksame Unterstützungsprojekte entwickelt, dass es «undenkbar» gewesen wäre, diese abzubrechen. So existiert der Verein bis heute, und er zählt noch immer rund 70 Mitglieder. Während Jürg Schneider die Geflüchteten insbesondere in juristischen Fragen und Prozessen berät und begleitet (Behördenkommunikation, Redigieren von Dossiers, Vermittlung von Anwaltsmandaten), wirkt Rolf Bornhauser hauptsächlich im Bereich der Integration (Stellen, Ausbildungen, Kurse): «Dank unserer Unterstützung konnten bisher 17 junge Männer eine Lehre abschliessen», sagt Bornhauser erfreut. Doch auch neben diesen zwei Haupteinsatzbereichen helfe der Verein in weiteren Fällen individuell, etwa bei der Wohnungsvermittlung, der Beschaffung von existenziellen Gütern, in der Langzeit-Nothilfe oder bei Eingliederungsprozessen.
Ablehnung und ihre Folgen
Die Menschen, um die sich der Verein tatkräftig kümmert, stammen vornehmlich aus Eritrea, Äthiopien, Tibet, Afghanistan, Iran, Kurdistan oder Syrien. Nach der Ankunft in der Schweiz müssen die oftmals traumatisierten Geflüchteten mindestens 140 Tage lang – «sehr oft erheblich länger», so Schneider – auf einen Asylbescheid warten, der aber – je nach Land – in bis zu drei Viertel der Fälle negativ ausfällt. Ein negativer Entscheid habe «verheerende Folgen» und klemme die Asylsuchenden «zwischen Stühlen und Bänken» ein, betont Jürg Schneider. Denn wegen einer wohlbegründeten Angst oder einer systematischen Gefährdung könnten sie meist nicht in ihr Heimatland zurückkehren und hier müssten sie fortan illegal, ohne Papiere und ohne «jegliche Perspektive» existieren. Unter den neuen Herausforderungen und psychischen Belastungen, die ein negativer Asylbescheid mit sich bringt, sei das Arbeitsverbot besonders gravierend, sagt Bornhauser: «Obwohl sie gut integriert und hochmotiviert wären, müssen sie ihre Arbeit aufhören oder gar eine begonnene Berufslehre abbrechen.» Und die Tatsache, dass in vielen Branchen, etwa in der Gebäudetechnik, in der Pflege oder im Gastgewerbe, akuter Personalmangel herrsche und eine verbreiterte Arbeitszulassung auch der Schweizer Wirtschaft gut tun würde, mache die Entscheide – oder die Verfahren – umso fragwürdiger.
Unentgeltlicher Einsatz
Missstände, Not und Leiden gibt es also reichlich, und Jürg Schneider und Rolf Bornhauser haben alle Hände voll zu tun. Das aktuelle Vereinsbudget reiche kaum aus, sagt Schneider, wobei beide betonen, dass das Geld vollumfänglich direkt zugunsten der Geflüchteten eingesetzt werde. «Wir selbst arbeiten zu 100 % unentgeltlich, nicht mal Spesen rechnen wir ab», sagt Schneider, und Bornhauser fügt an: «Es ist eine Herzensangelegenheit.» Und auch wenn das Unrecht oftmals eine grosse «Wut im Bauch» erzeuge, so sei es am Ende ohnehin «die grösste Belohnung, die Freude und Dankbarkeit der Menschen für jegliche Hilfe – sei sie klein oder gross – und insbesondere deren persönlichen Entwicklung» zu erleben.
Autor: Stephan Ruch (Artikel aus „reformiert.köniz“, Ausgabe Oktober 2022)
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