Ein bescheidener, unermüdlicher Kämpfer

Jürg Schneider setzt sich seit Jahren für abgewiesene Asylsuchende ein. Nun wurden er und der Verein «offenes scherli» von der Fachstelle Migration für ihr Engagement ausgezeichnet.

«Hartnäckig» ist das Wort, das immer wieder fällt, wenn über Jürg Schneider gesprochen wird. Daraufhin folgt in der Regel: «höchst professionell», «topseriös» oder sonst eine Bezeichnung, die Jürg Schneiders Erfahrungsschatz und Arbeitsweise beschreiben. Dabei fing alles ganz unspektakulär an: Im Jahr 2015 entschied der Kanton Bern, im Dorf Niederscherli eine Notunterkunft für Geflüchtete zu eröffnen. Rund 120 Männer sollten in der unterirdischen Zivilschutzanlage auf ihren Asylentscheid warten. Schnell fand sich im Dorf eine Reihe von Personen, die den Plänen des Kantons konstruktiv gegenübertreten wollten – denn der Widerstand aus der Bevölkerung war vorprogrammiert. «Meine Frau hatte damals die Idee, dass wir uns als Sprachlehrkräfte engagieren könnten», erinnert sich der heute 78-Jährige, der bis 2015 keinerlei Bezug zum Asylwesen hatte. Auf die vage Idee des Deutschunterrichts folgte bald die Gründung des Vereins «offenes scherli», der, wie der Name es antönt, seither als Bindeglied zwischen den Asylsuchenden und der lokalen Bevölkerung dient.

Belohnung für sein unermüdliches Engagement: Jürg Schneider freut sich über den Förderpreis der Fachstelle Migration für den langjährigen Einsatz zugunsten von Asylsuchenden und Flüchtlingen.
Foto: Adrian Hauser


Jürg Schneider, pragmatisch, wie er ist, übernahm bei der Vereinsgründung das Präsidium, weil sich sonst niemand für diesen Posten fand: «Ich sagte damals: Wenn unsere Arbeit davon abhängt, ob wir den Vorstand besetzen können, dann mache ich das halt.» Ganz im Konzeptionellen drin, dachte er über die eigene Dorfgrenze hinaus: Damit möglichst viele Menschen von der Arbeit in Niederscherli profitieren können, zog er in kürzester Zeit eine Informationsdatenbank zur Betreuung von Geflüchteten auf, eine Art «Asyl-Wiki».

Stetiger Beistand trotz Gegenwind
Die schweren Doppeltüren der Notunterkunft sind mittlerweile geschlossen, die asylsuchenden Menschen sind weitergereist, haben Wohnungen bezogen oder leben in einer anderen Unterkunft. Der Verein aber blieb bestehen, der Präsident blieb ebenfalls im Amt. Denn die Arbeit geht den Engagierten nicht aus. Wöchentlich reisen am Samstag ehemalige Bewohner der Unterkunft an, um gemeinsam Fussball zu spielen. Und monatlich treffen sich gegen 50 Menschen im Freitagstreff, um sich auszutauschen und miteinander zu kochen und zu essen; eine Kontaktbörse par excellence. Hinzu kamen allerdings mit der Zeit noch weitere Tätigkeitsfelder: Die Integrationsarbeit, Wohnungssuche und -einrichtung, die Arbeitsintegration – all dies wurde immer wichtiger.

Dazu kam aber insbesondere auch die Unterstützung von abgewiesenen Asylsuchenden. Denn nicht nur das Know-how zum Asylwesen wuchs bei den Engagierten; auch die Beziehungen zu den Menschen wurden tiefer. Selbstverständlich also, dass die Vereinsmitglieder den Menschen auch dann zur Seite standen, wenn der Staat ihr Asylgesuch abwies – insbesondere dann, wenn die Betroffenen entgegen der Behördenmeinung nicht in ihre Heimat zurückkehren konnten oder wollten. Die restriktive Behördenpraxis betrifft etwa Menschen, die vor der Diktatur Eritreas oder dem Bürgerkrieg Äthiopiens geflohen sind oder die sich als konvertierte Christen fürchten, in den Iran zurückzukehren, obschon die Behörden dies als «zumutbar» erachten.

Die Begegnung mit diesen Menschen habe Jürg Schneider völlig verändert, sagt sein ideeller Mitstreiter, Pfarrer Daniel Winkler aus Riggisberg. «Das ist eine Entwicklung, die viele Menschen machen: Sobald sie Geflüchteten in Real gegenüberstehen, verändert sich ihre Wahrnehmung. Sie sind dann nicht mehr eine anonyme, mit Vorurteilen behaftete Gruppe von gesichtslosen Wesen, über die man spricht wie über eine neue, fremdartige Krankheit. Nein, sie werden durch die Begegnung zu einem Gegenüber mit einem Gesicht, zu einem Menschen mit Sorgen und Freuden, mit Hoffnungen und Ängsten.»

Empörung als treibende Kraft
Jürg Schneider ist massgeblich daran beteiligt, dass die Schicksale der Betroffenen und der Begriff Langzeit-Nothilfe den Weg in die Medien fanden. Wer seit über einem Jahr unter den Bedingungen des Nothilferegimes lebt, fällt unter diesen Begriff. Die Nothilfe umfasst die Unterkunft in Mehrbettzimmern in kantonalen Rückkehrzentren, Krankenkasse und acht Franken für den täglichen Lebensbedarf, was etwa einem Viertel der Sozialhilfekosten gemäss SKOS entspricht; Arbeiten ist den Betroffenen untersagt.


Der Niederscherlier schmiedet Allianzen, um die Situation für die Betroffenen zu verbessern und auf ihre Anliegen aufmerksam zu machen: Als der Kanton Bern die abgewiesenen Menschen auf dem abgeschiedenen Tessenberg in ein ehemaliges Jugendheim platzieren will, gründet Jürg Schneider zusammen mit Gleichgesinnten kurzerhand die Aktionsgruppe Nothilfe. Er setzt sich zudem mit Lehrmeistern dafür ein, dass ihre geschätzten Lehrlinge trotz negativem Asylentscheid die Lehre abschliessen können. Ein Lehrabschluss sei die beste Entwicklungshilfe für Rückkehrende, so Schneider. Einige würden aber trotzdem hierbleiben, weil sich die Verhältnisse in ihrem Heimatland noch verschlechterten. «Mir sind eine ganze Reihe von Pflegelehrlingen bekannt, die mitten in der Coronapandemie die Pflege Knall auf Fall verlassen mussten», fasst der ehemalige Professor für Betriebswirtschaftslehre die Absurdität der Situation zusammen. Genau in dieser Absurdität sieht Pfarrer Daniel Winkler die Begründung für das Engagement von Jürg Schneider: «Empörung und Wut treiben ihn an, diese Missstände in Gesellschaft und Politik zu benennen und Abhilfe zu schaffen.»

Einsatz auf mehreren Ebenen
Jürg Schneider ist nicht nur pragmatisch – er ist auch zielstrebig. Also führt für ihn kein Weg an der Politik vorbei, schliesslich werden dort die Strukturen gezimmert, in denen die Menschen leben, die er begleitet. Er vernetzt sich mit Gruppen aus der Westschweiz («Das hilft den politischen Anliegen.»). Er kritisiert die zuständige Bundesrätin öffentlich («Unwahr ist, dass es nur um Einzelfälle geht.»). Er eignet sich die Kniffe des Lobbyierens an, teilt Parlamentarier und Parlamentarierinnen in Gleichgesinnte, Wankelmütige und Festgesessene ein. Er beginnt, kantonal wie national für Mehrheiten zu kämpfen. Im Berner Rathaus ist er mittlerweile ein bekannter Gast; auch in der Wandelhalle des Bundeshauses findet man ihn immer wieder. Mit auf die Zielgruppe abgestimmten Argumenten spricht er die politischen Entscheidungstragenden an – stets höflich und fundiert; immer mit Bezug zu den Menschen, die von der Politik betroffen sind.

Heute betreut Jürg Schneider – neben der politischen Arbeit – über 30 Dossiers von abgewiesenen Asylsuchenden. Insgesamt waren es bisher weit über 100. Für sie alle ist und war er ein Hoffnungsanker. Grund genug für die Fachstelle Migration, Jürg Schneider und den Verein «offenes scherli» mit dem diesjährigen Förderpreis auszuzeichnen. Seit 20 Jahren wurde nie eine Einzelperson statt einer Organisation mit dem Preis ausgezeichnet. Es sind Jürg Schneiders Wille, dranzubleiben, sein Herzblut für die Menschen und sein unglaublicher, ehrenamtlicher Einsatz auf verschiedenen Ebenen, die die Fachstelle überzeugt haben. Und trotzdem, so Jürg Schneider in seiner bescheidenen Art: «Die Anerkennung gilt nicht nur mir. Ohne Verein und meinen wunderbaren Vorstand im Rücken hätte ich längst aufgegeben.» Momentan denkt er allerdings nicht daran – und zieht los, um in Bundesbern ein paar Mittepolitiker von seinen Anliegen zu überzeugen.

Autorin: Selina Leu

Artikel aus «Ensemble», Ausgabe 68, Dez. 2022

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